Literaturnobelpreis 1925: George Bernard Shaw

Literaturnobelpreis 1925: George Bernard Shaw
Literaturnobelpreis 1925: George Bernard Shaw
 
Der irische Schriftsteller wurde geehrt für sein sowohl von Idealismus als auch von Humanität getragenes Werk, dessen frische Satire sich offen mit einer eigenartigen poetischen Schönheit vereint.
 
 
George Bernard Shaw, * Dublin 26. 7. 1856, ✝ Ayot Saint Lawrence (Hertfordshire) 2. 11. 1950; 1876 Übersiedlung nach London, dort tätig als Literatur-, Musik- und Theaterkritiker, Vortragsredner und freier Schriftsteller, 1884 Beitritt zur sozialistischen »Fabian Society«, 1897-1903 Stadtrat in London; ab 1911 Mitglied des akademischen Komitees der Royal Society of Literature, 1934 Weltreise.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Mit Blick auf die in dieser Zeit sehr konservative Geisteshaltung und Weltsicht der Schwedischen Akademie überrascht deren Entscheidung, den überzeugten, wenngleich undogmatischen Sozialisten und Schriftsteller George Bernard Shaw 1925 mit dem Nobelpreis für Literatur auszuzeichnen. Als damals bekannt wurde, dass die Schweden Shaw zum Preisträger dieses Jahres erkoren hatten, meinte er sarkastisch, dies sei wohl »ein Zeichen der Dankbarkeit für ein weltweites Gefühl der Erleichterung«, weil er in diesem Jahr nichts veröffentlicht habe, und lehnte die Ehrung zunächst ab. Nachdem er sich hatte umstimmen lassen und den Preis im darauf folgenden Jahr doch noch angenommen hatte — ohne der offiziellen Feier beizuwohnen —, überreichte er das Preisgeld sogleich einer neu gegründeten Stiftung zur Förderung des schwedischen und englischen Literatur- und Kunstaustauschs.
 
 Nicht nur Lob aus Schweden
 
Viele Mitglieder der Schwedischen Akademie vermissten in seinen Werken den so genannten »großen Stil«, womit eine erhabene Dichtung mit heroischen, »plastisch festen« Charakteren gemeint war. Auf der anderen Seite aber meinte ein 1924 vom Komitee erstelltes Gutachten bei Shaw unermüdlich jungen Idealismus, frische, wahre Menschlichkeit und Güte zu erkennen. Des Weiteren wurden vom Vorsitzenden des Preiskomitees Per Hallström die berühmten Vorworte oder vielmehr »Abhandlungen« Shaws angesprochen — wegen ihnen, nicht nur um des Schauspiels willen, lasen viele Menschen seine Werke. Er behauptete damals sogar, die Stücke des Iren machten ihn zu einem der faszinierendsten Dramatiker unserer Zeit, während seine brillanten Vorreden ihn auf eine Stufe mit Voltaire gehoben hätten. Das Nobelkomitee war zwar noch 1926 der Ansicht, sein Œuvre enthalte kein dramatisches Meisterwerk, wenn man nach den strengeren Regeln der Kunstgattung messe; doch im selben Atemzug äußerte es, die Entscheidung sei im Bewusstsein gefällt worden, dass man »vor etwas ganz Neuem« stehe, das in mehr als gewohntem Maß nach seinen eigenen Bedingungen beurteilt werden müsse. Hallström erläuterte dies im Prinzip bei der Überreichung: »Das Neue liegt nicht so sehr in Aufbau und Form[...]; es besteht vielmehr in der Unmittelbarkeit, mit der die Ideen in Handlung umgesetzt werden, und vor allem in der Besonderheit des Temperaments und des Intellekts, die sich hier fast beispiellos direkt und ungehemmt äußern.«
 
 Gesellschaftskritik und Bruch mit Traditionen
 
Shaws dramatisches Schaffen war geprägt von dem Willen, die Zuschauer und Leser mit unterhaltsamen, aber dennoch didaktischen Stücken so zu erziehen und zu belehren, dass sie über die Welt und die Gesellschaft, in der sie leben, nachdenken und sie — möglichst im sozialistischen Sinn — verändern. In seinen mehr als 50 Dramen übte er beißende Sozialkritik und legte menschliche Tiefenstrukturen des Empfindens und Handelns frei.
 
Die ersten erwähnenswerten Theaterstücke Shaws, namentlich »Die Häuser des Herrn Satorius« über einen ausbeuterischen Hausverwalter in einer Armensiedlung und »Frau Warrens Gewerbe« über Prostitution, erschienen 1892 und 1894 und beinhalten zugleich die schärfste Sozialkritik im Werk des Autors. In beiden Dramen stellt Shaw, wie Ibsen, von dem er stark beeinflusst war, alte Konventionen des Bürgertums in Frage. Die Antwort auf die angeschnittenen Probleme gab er allerdings nicht in den Stücken selbst. Neben solchen so genannten »plays unpleasant« verfasste G.B.S., wie er häufig genannt wurde, eher auf Unterhaltung abzielende »plays pleasant«, darunter 1894 das locker gebaute »Helden« voller spritzig-ironischer Dialoge.
 
Unter den weiteren bis zum Ersten Weltkrieg entstandenen Schauspielen ragen vor allem zwei heraus: »Mensch und Übermensch« (1903) und »Pygmalion« (1913). In ersterem stellt er seine — aus Gedankengängen von Nietzsche und anderen zusammengesetzte — Auffassung von der »life force« dar, der Urkraft des Lebens, welche die Beziehung der Geschlechter zueinander bestimmt und die Schaffung des Übermenschen gewährleistet, dem die Lösung der sozialen und politischen Probleme der Menschheit gelingt. Im vor geistreichem Humor sprühenden »Pygmalion« attackiert Shaw die die Entfaltung der Persönlichkeit behindernden Klassenschranken und zeigt anhand des von einem Phonetiker zur Dame erzogenen Blumenmädchens Eliza Doolittle die Signifikanz der Aussprache im zeitgenössischen Großbritannien auf. 1920 erschien das zu Shaws gedankentiefsten, philosophischsten Dramen zählende »Zurück zu Methusalem«. Darin wird die Geschichte des menschlichen Wesens vom Sündenfall bis zur heutigen Zeit metaphysisch gedeutet und die Vision einer zukünftigen Entwicklung dargestellt.
 
Den Höhepunkt seines Schaffens als Literat markierte allerdings das bezeichnenderweise letzte vor dem Empfang des Nobelpreises fertig gestellte Stück »Die Heilige Johanna«, in dem der Ire ein ganz neues Bild der Jungfrau von Orléans und der an ihrem Inquisitionsprozess Beteiligten entwirft. Shaw sieht in dem Mädchen die Vorkämpferin einer neuen Zeit, in der Protestantismus und Nationalismus die mittelalterliche Gesellschaftsordnung abzulösen beginnen und in der mit überkommenen Traditionen gebrochen wird. Bekannte Themen und Motive Shaws kennzeichnen dieses Schauspiel: die Fortschrittsproblematik, die Bedeutung des gesunden Menschenverstands und die Umkehrung der Rollen von Mann und Frau.
 
In den späteren, zumeist weniger bekannten Werken überwiegt die politische Satire. So auch in dem dramaturgisch gesehen eher flüchtig konstruierten und handlungsarmen »Der Kaiser von Amerika« (1929), in dem Shaw die Probleme einer konstitutionellen Monarchie denen einer Demokratie gegenüberstellt.
 
 Unvergessene Dramen, unvergessenes Engagement
 
Shaw verfasste in seinem langen Leben neben Theaterstücken auch einige Romane, zahllose Kritiken sowie allgemeine Schriften und Essays und ist selbst um die Jahrtausendwende noch ein populärer Autor, den man mitunter sogar als »Shakespeare des 20. Jahrhunderts« bezeichnet. Und mögen Shaws politische Ansichten, die seiner Kirche und Religion gegenüber kritische Haltung nicht Jedem behagen, so schätzt man doch sein Engagement für eine gerechtere, sozialere und vor allem klassenlose Gesellschaft, sein Eintreten für die Rechte der Frauen, seinen Humor und natürlich seine kurzweiligen und intelligenten Stücke, die ihm für lange Zeit einen Platz im kollektiven Gedächtnis sichern.
 
I. Arnsperger

Universal-Lexikon. 2012.

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